Ausstellung
Potosí-Prinzip – Archiv
Alice Creischer, Harun Farocki, Lois Hechenblaikner, Miguel Hilari, Andreas Siekmann
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Der europäische Kapitalismus ist nicht denkbar ohne die Ausbeutung von Menschen und Natur in Lateinamerika während der Kolonialzeit. Er kann nicht als losgelöstes einzelnes Konzept gesehen werden, sondern ist vielmehr das Ergebnis einer Vielzahl von historischen Prozessen.
Die Minenstadt Potosí in Bolivien war der Ausgangspunkt für das Ausstellungsprojekt Das Potosí Prinzip, kuratiert von Alice Creischer, Max Jorge Hinderer Cruz und Andreas Siekmann. Gezeigt wurde es 2010 im Reina Sofia Museum in Madrid und im Haus der Kulturen der Welt in Berlin. 2011 wanderte die Ausstellung weiter ins Museo Nacional de Arte und ins Museo Nacional de Etnografia y Folklore in La Paz, Bolivien.
Der Cerro Rico (dt. Reicher Berg) in Potosí war zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert eines der wichtigsten Silberabbaugebiete weltweit und brachte einen unvorstellbaren Reichtum nach Europa. Im 17. Jahrhundert galt Potosí als eine der größten Städte der Welt - vergleichbar mit London oder Paris.
Das Silber schuf nicht nur eine entscheidende Dynamik für die Entwicklung der Industrie, des Bankenwesens, der kolonialen Handelskompanien und ihrer Kriegs- und Sklavenschiffe, sondern auch für die Vertreibung, Verelendung und Verfügbarmachung von Menschen zu Arbeitskräften. Es ist der Beginn eines Prinzips, das schon seit jeher global agiert.
Die Ausstellung erörterte dies anhand der kolonialen Barockbilder und ihrer Beantwortung durch gegenwärtige Künstler*innen. Sie wurde zu einem Meilenstein in der postkolonialen Hinterfragung des Ursprungs der Moderne und der Funktion der Kunst darin.
Die Ausstellung Potosí-Prinzip – Archiv präsentiert nun das Archiv dieses Projekts, mit dem die Künstler*innen Alice Creischer und Andreas Siekmann seine blinden Flecken erforschen wollen und erneut an die Frage anknüpfen, wo das Prinzip der globalen Ausbeutung heute noch zu finden ist.
Es besteht aus 36 Broschüren, die in vier Bände gefasst sind. Seine Themen sind: Extraktivismus, Arbeit, Schulden, Inquisition, Maschinenkapitalismus und Dekolonisierungspraktiken. Das Potosí-Prinzip – Archiv ist eine Sammlung von historischen und zeitgenössischen Quellen, Interviews, Essays, Gedichten, Manifesten und Bildern.
Die Stadt Schwaz in Tirol bezeichnet sich selbst als Silberstadt und ist somit untrennbar von ihrer historischen Identität zu betrachten. Was einst zu großem Reichtum führte und die Fugger nach Schwaz brachte, um von dort aus als europäische Finanziers zu agieren, wird nach wie vor als Aushängeschild der Stadt genutzt.
Die Ausstellung in Schwaz versteht sich als Lesesaal. Die Broschüren können von der Wand genommen und gelesen werden.
Sie ist aber auch eine Art Werkzeugkasten für Bewusstseinsprozesse. Eine Gegenüberstellung von vergangenen Bildern und zeitgenössischen künstlerischen Beiträgen. Sie zeigt Prozesse, die sich nicht aufhalten lassen, aber neu gedacht werden müssen.
Die Lesbarkeit von Piktogrammen nutzten Alice Creischer und Andreas Siekmann bereits 2010. Für die Ausstellung Das Potosí Prinzip Archiv wurden diese neu konzipiert und erweitert.
Der Balkon des Palais Enzenberg ist flankiert von zwei Fahnen. Darauf abgebildet ist zum einen die Münze Potosí, darüber die beiden Säulen des Herakles, entnommen aus dem spanischen Wappen mit dem Schriftband plus ultra (immer weiter), als Zeichen des Aufbaus eines spanischen Weltreichs durch die spanische Kolonisation Amerikas im Laufe des 16. Jahrhunderts. In der Mitte kreisen in einer hinabsteigenden Spirale die Bagger Richtung Erdinnerem. Auf der anderen Seite befindet sich parallel dazu die Fahne mit der Münze Hall. Darauf abgebildet ist Erzherzog Ferdinand II. Im 16. Jahrhundert revolutionierte Hall das Münzprägewesen mit einer besonderen Walzenprägemaschine. Das Wissen über diese Münzprägetechnik wurde über den spanischen Hof, unter König Philipp II. (Cousin von Erzherzog Ferdinand II), bis in die spanischen Kolonien transferiert. Während sich im Haller Münzmuseum nur mehr eine aufwendige Rekonstruktion befindet, sind in Potosí noch Originale von Prägemaschinen nach Haller Vorbild im Museum Casa de la Moneda erhalten. Auch diese Fahne ist von den Säulen und Bändern flankiert. In der Mitte ist ein Vierer-Sessellift zu sehen. In dieser Spirale sind es anstelle der Bagger Skifahrer*innen, die in kreisenden Linien nach unten fahren.
Die Grafiken, welche auf der Einladungskarte und dem Plakat abgebildet sind, finden sich auch in der Ausstellung wieder. Sie thematisieren die Fragestellungen des Archivs und beschäftigen sich mit den Problemen unserer Zeit. Dinge wie Bildproduktion, Credits, die Selbstdarstellung, Machtstrukturen, Registrierungen, persönliche Daten, Generationsungerechtigkeit uvm. werden in Piktogrammen thematisiert.
Im Studio werden die Filme Das Silber und das Kreuz von Harun Farocki und Bocamina (dt. Grubeneingang) von Miguel Hilari gezeigt. In beiden Filmen spielt das Bild von Gaspar Miguel de Berrío Descripción del Cerro Ricco e Imperial Villa de Potosí (Beschreibung des Cerro Rico und der kaiserlichen Stadt Potosí) von 1758 eine wichtige Rolle.
Das Silber und das Kreuz ist eine Bestandsaufnahme des Gemäldes sowie der Versuch einer Sichtbarmachung von Unsichtbarem. Es ist keine Hölle, welche die Grausamkeiten des Kolonialismus aufzeigt, sondern die säuberlichen Strukturen einer Industriestadt in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Nichts deutet auf die Gewalt und Unterdrückung der indigenen Bevölkerung hin. Nichts zeugt von dem Widerstand, der Verteidigung und der Erneuerung. Es ist die Stimme, die uns über die visuelle Wahrnehmung hinaus alle Bestandteile zur Erfassung der Ereignisse hören lässt und eine andere Welt präsentiert, die wir zu sehen meinen.
Bocamina erscheint indes wie eine Art Weiterführung des Gemäldes ins Jetzt. Es ist die Stadt, wie sie heute ist, mit den Menschen, die dort Leben, die in den Minen arbeiten, den Kindern, die in Potosí zur Schule gehen. Konfrontiert mit Bildern aus vergangenen Zeiten, erscheinen die Bedingungen und die Umgebung sich nicht maßgeblich verändert zu haben. Die Geschichte klebt an diesem Ort und seinen Bewohner*innen.
Im großen Raum befindet sich eine Silberstiftzeichnung auf Transparentpapier, angefertigt von Quirin Bäumler für die Ausstellung Das Potosí Prinzip von 2010. Diese funktioniert wie ein Raumteiler. Wird der Raum von Westen her betreten, schafft das Bild einen schmalen Gang, an dessen einen Seite das Transparent aus nächster Nähe betrachtet werden kann, während an der gegenüberliegenden Wand eine Timeline aus Statistiken zu sehen ist. Diese sind wie feine Haarrisse an die Wand gezeichnet. Ein Synonym dafür, dass die Welt rissig ist, unbeständig. An Bändern, die von der Wand hängen, können die dazugehörigen Informationen abgelesen werden.
Wird der Raum von der Nordseite her betreten, wird eine Gesamtansicht auf die Silberstiftzeichnung ermöglicht. Es ist eine exakte Wiedergabe des 1739 entstandenen Bildes Infierno vom Meister von Caquiaviri. St. Antonius ist eine Kirche in Caquiaviri, in der Region La Paz in Bolivien. Sie wurde um 1560 von den ersten Franziskaner-Missionaren errichtet. Das Originalbild ist Bestandteil einer der wenigen vollständig erhaltenen beeindruckenden Bilderensembles der so genannten Postrimerías, welche die ganze Kirche in Caquiaviri ausfüllen. Postrimerías (Darstellungen von Tod, Jüngstem Gericht, Höllenqual) waren in der Gegend um den Titicacasee sehr verbreitet. Sie gehören zu den ersten christlichen Bildmotiven in Südamerika.
In einer Gegenüberstellung zur Silberstiftzeichnung werden 27 Fotografien aus zwei Werkserien von Lois Hechenblaikner gezeigt. Diese lassen sich wie eine fortlaufende Spiegelung des Infierno in Bezug auf kapitalistische Systeme der Ausbeutung der Berge in Tirol lesen. Im Zentrum steht der Skitourismus. Es ist eine Dokumentation ungeschminkter Realitäten der Tourismusbranche seit über 25 Jahren. Es ist das Geschäft mit idyllischen Landschaftsklisches und der Tiroler Gastfreundschaft. Eine Rundumversorgung im vermeintlichen ‚Naherholungsgebiet‘. Industrialisierung und Massenabfertigung in Endlosschleife. Es ist das Schürfen nach Erlebnissen, Stimulans für lange schon erschöpfte Seelen.
Alice Creischer (*1960 in Gerolstein) und Andreas Siekmann (*1961 in Hamm) leben und arbeiten in Berlin. Gemeinsam haben sie u. a. folgende Projekte kuratiert: "Die Gewalt ist der Rand aller Dinge" (2002, Generali Foundation, Vienna), ExArgentina (2004, Museum Ludwig Cologne / 2005 Palais de Glace, Buenos Aires) und Principio Potosí (2010, Museo Reina Sofia, Madrid, Haus der Kulturen der Welt, Berlin and 2011 Museo Nacional, / Museo Ethnografia, La Paz).
Aktuelle Publikation: Principio Potosí Archiv, publiziert von Walther König, 2022, bestehend aus vier Bänden. Seine Themen sind: Extraktivismus, Arbeit, Schulden, Inquisition, Maschinenkapitalismus und Dekolonisierungspraktiken.
Lois Hechenblaikner (*1958 in Reith im Alpbachtal) lebt und arbeitet in Tirol. Er kam als Autoditakt zur Fotografie. Seit Mitte der 1990er Jahre ist der tourismusbedingte Wandel der Tiroler Landschaft und dessen Folgen für Mensch und Natur das zentrale Thema in seinem fotografischen, filmischen und skulpturalen Werk. 2013 wurde Lois Hechenblaikner von der fotografischen Gesellschaft Positive View Foundation in London zu den bedeutendsten Fotografen des 21. Jahrhunderts gereiht und seine künstlerischen Werke im Rahmen der Ausstellung Landmark: The fields in Photography im Somerset House in London ausgestellt.
Miguel Hilari (*1985 in Hamburg) lebt und arbeitet in La Paz, Bolivien. Er ist Filmemacher. Sein Vater ist bolivianischer Aymara, seine Mutter Deutsche. Geboren in Hamburg wuchs er in Bolivien zwischen La Paz und Altiplano auf. Seine Arbeiten beschäftigen sich mit den Themen der Migration, Geschichte und indigenen Kultur. Sie wurden auf mehreren internationalen Filmfestivals präsentiert.
Harun Farocki (*1944 in Neutitschein, †2014 bei Berlin) stammt aus dem damals von den Deutschen annektierten Teil der Tschechoslowakei. Er studierte an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (West). Von 1974 –1984 war er Autor und Redakteur der Zeitschrift Filmkritik in München. Darüber hinaus schuf Farocki seit 1966 über 100 Produktionen für Fernsehen und Kino, darunter Kinderfernsehen, Dokumentarfilme, Essayfilme und Storyfilme. Ab 1996 war er zudem in zahlreichen Gruppen- und Einzelausstellungen in Museen und Galerien vertreten. 2007 nahm er mit Deep Play an der documenta 12 teil. Von 2011 –2014 arbeitete er gemeinsam mit Antje Ehmann an dem Projekt Eine Einstellung zur Arbeit.
Harun Farocki verstarb am 30. Juli 2014 bei Berlin.
Sujet © Andreas Siekmann
Fotos © Verena Nagl
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