Ausstellung
Schwaz 45/46 - Verschachtelte Erinnerungslandschaften
Jewgenij Chaldej, Toni Kleinlercher; Interviews, Objekte und Dokumente mit und von der Schwazer Bevölkerung
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Seit dem Frühjahr 1995 war die Schwazer Bevölkerung in Zeitungsinseraten gebeten worden, der Galerie Erinnerungsgegenstände, Fotos usw. aus der Zeit vor Ende des 2. Weltkriegs bis zur Besatzungszeit für eine Ausstellung in Gedenkjahr als Leihgaben zur Verfügung zu stellen. Die Resonanz war groß, es wurden viele Fotos und Objekte abgegeben. Die mit den einzelnen Gegenständen verbundenen Erinnerungen wurden von den Zeitzeugen in Interviews erfragt. Im Sommer führten Vera Vogelsberger und ihre MitarbeiterInnen diese Gespräche, und aus dem umfangreichen Material wurde dann eine Auswahl für die Ausstellung getroffen. Nicht die Dokumente der "großen Geschichte" waren für die Ausstellung von Interesse, sondern vielmehr die kleinen, scheinbar banalen Gegenstände des damaligen Alltags, aber verbunden mit den aufgezeichneten perönlichen Erinnerungen einzelner SchwazerInnen. Gegenstände, an denen Erinnerungen haften, deren Bedeutung aber ohne die Erzählungen der BesitzerInnen nicht erfahren werden kann.
Die Erinnerungsgegenstände und Fotos wurden von den LeihgeberInnen meist in Schachteln, bevorzugt in Bonbonschachteln, aufbewahrt. Damit war das Konzept für die Ausstellungsarchitektur und der Untertitel für die Ausstellung gefunden: Verschachtelte Erinnerungslandschaften.
Das erste Segment der Ausstellung war die Präsentation von über 100 Erinnerungsstücken in unterschiedlich großen Kartonagen sowie vier Hörmöglichkeiten von Interviews. Das zweite Segment der Ausstellung war die Installation Warszawa Getto "Unter der Brücke fließt kein Fluss" - ein Zitat aus dem Buch Tanz Mädchen, die Geschichte einer Warschauer Jüdin, die sich unter falschem Namen vor den Nationalsozialisten retten konnte. Im Sommer 1993, 50 Jahre nach Niederschlagung des Warschauer Gettoaufstandes, machte sich Toni Kleinlercher auf den Weg, das "kleine" Warschauer Getto entlang seiner Grenzen zu umwandern. Der jüdischen Sitte nachempfunden, einen Stein auf das Grabmal der Verstorbenen zu legen, platzierte er vorgefundene Steine zur Markierung des ehemaligen Gettobezirks. 15 Steine als 15 stille Zeichen, die zum Schweigen zwingen. 1 Stein für 30.000 Tote. Die 15 dabei entstandenen Fotografien waren in der Galerie in Betonrahmen auf dem Boden ausgelegt, und am Ende der Fotoreihe befand sich ein Steinhaufen. Die BesucherInnen der Ausstellung konnten einen Gedächtnisstein aus dem Steinenvironment mitnehmen und diesen an einen Ort in der eigenen Erinnerungslandschaft ablegen.
Das dritte Segment zeigte eine Sicht von Aussen. Der russische Fotograf Jewgenij Ananjewitsch Chaldej, Jahrgang 1917, zog als einer der jüngsten Fotografen der Roten Armee in den Zweiten Weltkrieg, als einer der berühmtesten kehrte er zurück. Er fotografierte an fast allen Fronten bis zur Krim, danach auch die Befreiung des Balkans und den Einmarsch der Roten Armee in Österreich. Durch Dörfer und Landschaften ziehen eine fremde Armee, Flüchtlinge, befreite Kriegsgefangene; Bilder vom zerstörten Wien, in den Straßen Tote und Verletzte; Siegesgesten, Porträts sowjetischer Soldaten, propagandistische und misstrauische Begegnungen mit der Zivilbevölkerung, das wieder beginnnende Leben in der Stadt. Durch das Foto Auf dem Berliner Reichstag, 2. Mai 1945, welches das Hissen der sowjetischen Fahne auf dem Reichstagsgebäude zeigte, wurde er weltberühmt.*
Die Ausstellung thematisierte drei verschieden örtliche und zeitliche Ebenen der Kriegs- und Nachkriegsgeschichte. Dieser Zugang verdeutlichte die Verwobenheit der Ereignisse der Jahre 1945/46 und der Jahre davor. Ein Nachher ist ohne ein Vorher nicht zu verstehen - kann nicht aufgearbeitet werden, kann nicht sichtbar werden. Dem viel zitierten Mythos der Stunde Null im Jahre 1945 wurden künstlerische und historische Blickwinkel entgegengesetzt, die dazu beitragen sollten, Differenzierungen zu ermöglichen.
Text: Andrea Hörl
*2008 wurde ihm eine eigene Ausstellung im Martin-Gropius-Bau in Berlin gewidmet. Sein Tagebuch, das bis zu seinem Tod 1997 unbekannt blieb, ist ein wichtiges historisches Zeugnis der wenig heldenhaften Seiten des Krieges: Jewgenij Ananjewitsch Chaldej, Kriegstagebuch. Schriftliches und fotografisches Tagebuch, Das Neue Berlin Verlag, 2011
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