Führung
Nadja Ayoub, Leiterin des Kunstraum Schwaz, führt durch die Ausstellung gestures of archiving.
Ein Archiv ist immer eine Form von Speicher, eine Form von Bewahrung, eine Form von Ordnung und Strukturierung, eine Form von Erinnern.
Archive gestalten unsere Gegenwart. Sie sind Orte des Wissens, die Machtverhältnisse fortschreiben, sie formen unser kollektives Gedächtnis.
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Mitten auf einer Wiese zwischen Schwaz und Buch (Tirol) wird 1944 ein NS Zwangsarbeiterlager errichtet. Im nahegelegenen Bergwerk müssen die dort untergebrachten Menschen unter qualvollen Bedingungen für die Rüstungsindustrie der Nazionalsozialist:innen unter Tage arbeiten. Viele von ihnen sterben.
Nach dem Krieg wird dieses Gebiet der französischen Besatzungszone zugesprochen und aus dem NS Zwangsarbeiterlager wird ein Entnazifizierungslager – benannt in Erinnerung an einen kleinen Ort in Frankreich, Oradour-sur-Glane, der 1944 von der SS Panzerdivision „Das Reich“ zerstört wird und dessen Bewohner:innen grausam ermordet werden.
Im Entnazifizierungslager Oradour werden in Schwaz u.a. ranghöhere Nazionalsozialisten inhaftiert. Viele aus der unmittelbaren Umgebung.
1948 wird aus dem Entnazifizierungslager Oradour „St. Margarethen“, ein Flüchtlingslager für überwiegend aus Mittel-, Ost-, und Südeuropa Vertriebene.
Ab 1954 werden die Baracken bis in die 1980er-Jahre als Wohnunterkünfte für die armutsbetroffene Bevölkerung aus Schwaz und Umgebung genutzt. Die letzten Baracken werden in den späten 1980ern abgerissen.
Heute gibt es neben der kitschig anmutenden landschaftlichen Kulisse, als wäre sie einem Tiroler Tourismusprospekt entnommen, nicht viel, was an die Geschichte dieses Ortes erinnert.
2015 errichtet die Stadt Schwaz eine rostbraune Stele mit dem ausgeschnittenen Namen „Oradour“.
Mit dieser spezifischen Benennung der Stele laufen wir Gefahr, die hiesigen Gräueltaten zu verlagern, weg zu transportieren, in die Ferne, nach Oradour-sur-Glane. Wir richten wie von selbst unseren Blick nach Frankreich, auf diesen Ort der Opfer, und verschließen die Augen vor einem Ort der Täter:innen im Hier.
„Oradour“ kann stellvertretend für zahlreiche Orte und Geschehnisse dieser Welt stehen. Es wirft die Frage auf, an was wir uns erinnern wollen? Was ist sichtbar und was nicht? Wie kommt man von Erinnerungsarbeit zur politischen Imagination und von der Imagination zum politischen Handeln? Wofür übernehmen wir Verantwortung oder besser gesagt: Für welche Geschichte wollen wir haften? [1]
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Ein wesentlicher Aspekt der Ausstellung gestures of archiving ist es, eine Verbindung zwischen künstlerischer Praxis und Forschung in einem internationalen Kontext und lokalen Fragestellungen hinsichtlich der Erinnerungskultur zu schaffen.
Die eingeladenen Künstler:innen Andrii Dostliev (UKR), Olia Fedorova (UKR), Thomas Heise (DEU), Nikita Kadan (UKR), Eduardo Molinari (ARG), Isabel Peterhans (CHE) und Simone Schönett (AUT), Esther Strauß (AUT), Miriam Visaczki (DEU) und Claire Waffel (DEU) zeigen in ihren Arbeiten unterschiedliche Ansätze und Methoden, die sich mit Formen von Erinnerungskultur, Geschichte, Politik und Territorium beschäftigen.
Sie erzählen eine plurale Geschichte mit verschiedenen sozialen, kulturellen und politischen Kontexten und spannen dabei den Bogen von lokaler Vergangenheitsbewältigung, der Suche nach Anerkennung, verschiedenen diktatorischen Systemen dieser Welt bis hin zum aktuellen Krieg in der Ukraine und geben damit einen Einblick in brennende Fragen unserer Zeit.
[1] Vgl. Arye Wachsmuth: Tirol: Fehlendes Geschichtsbewusstsein, 19.9.2022, https://www.derstandard.at/ story/2000139202165/tirol-fehlendes-geschichtsbewusstsein (zuletzt aufgerufen am 25.09.2023)
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